Öffentlichkeit und Erfahrung
Wir erleben gegenwärtig einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, der die Habermas’sche Analyse einer massenmedial erzeugten Scheinöffentlichkeit überschritten hat. Im Zeitalter der sogenannten „sozialen Medien“ findet Kommunikation längst nicht mehr nur in eine Richtung statt, sondern spielt sich vielverzweigt in „Netzwerken“ ab. Dies ermöglicht neue Formen der Interaktion und Partizipation, aber ebenso der Manipulation, der personalisierten Informationsorganisation und letztlich der Isolierung in sogenannten „Filterblasen“. Die neuen Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten sind zunehmend hybride Räume, in denen sich Öffentliches und Privates, Reales und Virtuelles, sowie ökonomische, soziale und politische Anliegen vermischen – und dies oftmals gleichzeitig.
Die Ringvorlesung soll einerseits prominente Öffentlichkeitstheorien des 20. Jahrhunderts (Hannah Arendt, John Dewey, Jürgen Habermas, Richard Sennett, Neil Postman etc.) einer Relektüre unterziehen und andererseits die Herausforderungen der Gegenwart thematisieren. Mit der Anspielung auf Oskar Negts und Alexander Kluges Buch „Öffentlichkeit und Erfahrung“ von 1972, soll ein Fokus auf den Erfahrungsbegriff in Zusammenhang mit öffentlichen Kontexten gelegt werden. Das soll einerseits ermöglichen, Öffentlichkeit konzeptionell und begrifflich wieder stärker als Erfahrungs- und Interaktionsraum zu fassen, in Ergänzung zu institutionen-, diskurs- und informationstheoretischen Konzeptionen. Andererseits sollen dadurch auch die materiellen, leiblichen, technologischen, diskursiven, politischen, ökonomischen, hegemonialen Bedingungen von Erfahrung und Erfahrbarkeit in den Blick kommen, die Öffentlichkeiten formen und Mechanismen von In- und Exklusion sein können.
Schließlich soll der Fokus auf „Öffentlichkeit und Erfahrung“ zu Fragen bezüglich Handeln, Fühlen und Wissen in klassischen und neuen öffentlichen Settings anregen: Wie werden Formen kollektiven Handelns erfahren und reflektiert angesichts potenziell unlimitierter Reichweite, die aber wiederum durch eine rigide Aufmerksamkeitsökonomie begrenzt wird? Welchen Einfluss auf die Meinungsbildung und welche Repräsentationskraft für das „öffentliche Interesse“ haben Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten, die so schnell „viral“ werden wie sie auch wieder verschwinden? Wie erscheinen handelnde Personen in diesen Kontexten und wie wichtig ist direkte face-to-face Interaktion (noch immer)? Kann ein unverwechselbares „Wer-einer-ist“ in einer „Like“-Kultur überhaupt sichtbar werden oder handelt es sich nicht immer um Formen der verzerrenden Objektivierung und Kommerzialisierung? Wie formen digitale Umwelten epistemische Einstellungen (was können wir wissen und wie?), doxische Stellungnahmen (wie bilden wir uns Meinungen?) und strategische Praktiken (wie handeln und mobilisieren wir?)? Was sind Formen des Miteinander-Fühlens im Internet? Wie wichtig ist Vertrauen, wenn Wahrheit eine umkämpfte Domäne wird?
Termine
16.10.2019
Sophie Loidolt (Darmstadt)
Einführung
Petra Gehring (Darmstadt)
Publizitätsparadoxien digitaler Wissenschaft
23.10.2019
Gerhard Gamm (Darmstadt)
Die öffentliche Meinung. Wandel und Widersprüche im Ausgang von Hegel
30.10.2019
entfällt
6.11.2019
Jan Slaby (Berlin)
Verdunkelungsgefahr – Hannah Arendt und die Schattenseiten der Öffentlichkeit
13.11.2019
Andreas Gelhard (Bonn)
Institutionalisierung sozialer Freiheit? Bildungstheorie als Herausforderung der politischen Philosophie
20.11.2019
Dirk Jörke (Darmstadt)
John Dewey. Von der liberalen Öffentlichkeit zum demokratischen Sozialismus
27.11.2019
Tobias Matzner (Paderborn)
Erfahrung in der Kritik algorithmisierter Öffentlichkeiten
4.12.2019
Gernot Böhme (Darmstadt)
Privatheit in Zeiten der Netzgesellschaft und die Zukunft analoger Kompetenzen
11.12.2019
Michaela Pfadenhauer (Wien)
Die (Ohn)Macht mittelbarer Kommunikation in hybriden Öffentlichkeiten
18.12.2019
Christoph Hubig (Darmstadt)
Im Erfahrungsdschungel virtueller Realitäten und Wirklichkeiten. Mediale Steuerung als Orientierungshilfe?
15.1.2020
Antke Engel (Berlin)
Kohabitation im Konflikt
Entfällt leider krankheitsbedingt!
22.1.2020
Käte Meyer-Drawe (Bochum)
Zum Wandel selbstverschuldeter Unmündigkeit
29.1.2020
Konrad Paul Liessmann (Wien)
Der Raum des Denkens. Über Philosophie als öffentliche Erfahrung
5.2.2020
Jessica Heesen (Tübingen)
Numerische und diskursive Öffentlichkeiten in der digitalen Gesellschaft
12.2.2020
Alfred Nordmann (Darmstadt)
Kitsch und Kunst, Technik und Wissenschaft